Warum ritzt man sich? Die häufigsten Gründe für Selbstverletzung
Selbstverletzungen können vor allem die Angehörigen Betroffener in Sorge und Panik versetzen. Doch längst nicht immer sind sie Zeichen einer psychischen Störung oder Erkrankung. Ein Experte erklärt, warum Menschen sich „ritzen“, wo Betroffene Hilfe finden und wie Eltern am besten mit dem selbstverletzenden Verhalten ihres Kindes umgehen.
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- „Ritzen“: Krankheit oder Symptom?
- Selbstverletzungs-Gründe: Warum ritzt man sich?
- Autoaggression bei Erwachsenen: Ritzen Erwachsene sich auch?
- Borderline: Ritzen als Symptom
- Selbstverletzung: Was können Betroffene tun?
- Selbstverletzendes Verhalten: Therapie
- „Mein Kind ritzt sich“: Wie sollten Eltern sich verhalten?
- Selbstverletzung ernstnehmen, aber besonnen reagieren
Mit Glasscherben oder Rasierklingen: Wenn Jugendliche sich „ritzen“, steckt meist ein ganz bestimmter Grund dahinter. Und der ist in den meisten Fällen von Selbstverletzung im Kern derselbe, weiß Psychotherapeut Dipl.-Psych. Markus Volmer aus Hamburg.

„Ritzen“: Krankheit oder Symptom?
Das Phänomen Selbstverletzung oder „autoaggressives Verhalten“ findet sich vor allem im Jugendalter: „Wir beobachten den Peak etwa zwischen 12 und 17. In diesem Alter sehen wir die meisten Jugendlichen, die sich selbst verletzen“, so Experte Volmer. Und das kommt gar nicht mal so selten vor: „Schätzungsweise verletzen sich bis zu 20 Prozent aller Jugendlichen mindestens einmal. Das ist eine grobe Zahl, je nach Studie kann sie variieren.“ Die gute Nachricht: Nicht alle Jugendlichen wiederholen die Selbstverletzungen.
„Selbstverletzung ist erstmal ein Symptom, keine Krankheit“, erläutert der Psychotherapeut. „Sie kann im Rahmen verschiedener Erkrankungen vorkommen, zum Beispiel einer depressiven Episode, einer Essstörung oder einer sich entwickelnden Persönlichkeitsstörung.“ Doch längst nicht immer ist das selbstverletzende Verhalten ein Krankheitssymptom: „Es gibt viele Fälle von Jugendlichen, die sich ein-, zweimal selbst verletzen und es dann aber nicht mehr weiter tun und in ihrer Lebenszeit auch keine psychische Störung entwickeln. Es sollte dennoch ernst genommen werden und Unterstützung gesucht werden.“
Selbstverletzungs-Gründe: Warum ritzt man sich?
Die Selbstverletzungen erfüllen für die Betroffenen eine ganz bestimmte Funktion, so Volmer: „Der Grund ist meist eine Schwierigkeit in der Selbstregulation.“ Die Betroffenen haben (noch) keine guten Strategien im Umgang mit starken Emotionen erlernt. Die Selbstverletzung verwenden sie als „Werkzeug“, um die heftigen Gefühle besser aushalten zu können – die durch den Schmerzreiz ausgelösten äußeren Gefühle lenken zumindest kurzzeitig von den inneren ab und machen sie so erträglicher.
So erklärt der Experte auch, warum gerade Jugendliche sich so oft „ritzen“: „Das Leben wird für das sich entwickelnde Individuum gerade komplexer – sowohl hormonell, als auch von den Anforderungen, die von der Umwelt an die Jugendlichen gestellt werden. So werden Emotionen ausgelöst, für die zu diesem Zeitpunkt einfach noch keine guten Regulationsstrategien da sind.“
Autoaggression bei Erwachsenen: Ritzen Erwachsene sich auch?
Selbstverletzung bei Erwachsenen lässt sich dagegen nicht mehr allein mit hohen Wogen in der Persönlichkeitsentwicklung erklären. Bei erwachsenen Betroffenen ist das Problem tatsächlich meist tieferliegend, erklärt Volmer: „Bei Erwachsenen, die sich selbst verletzen, liegt in der Regel eine psychische Krise zugrunde, etwa eine schwere Depression oder möglicherweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.“
Borderline: Ritzen als Symptom
Während es für Jugendliche noch normal ist, Probleme mit der Selbstregulation zu haben, haben Erwachsene in der Regel bereits effektive Strategien erlernt, um auch heftige Gefühle zu bewältigen und angemessen mit ihnen umzugehen. Anders ist das bei Menschen mit der sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung, erklärt Volmer: „Menschen mit der Borderline-Störung haben über die Pubertät hinaus nicht gut gelernt, bestimmte Emotionsbereiche funktional unter Kontrolle zu bekommen.“ Auch für sie fungiert die Autoaggression dann häufig als Ablenkungsstrategie von dem inneren Gefühlssturm. Die Borderline-Therapie umfasst darum unter anderem ebenfalls das Erlernen von Strategien zur Selbstregulation.
Selbstverletzung: Was können Betroffene tun?
Betroffenen rät der Experte, sich Hilfestellung zu holen: „Erste Anlaufstelle sind zum Beispiel karitative Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, die Jugendhilfe, die Sprechstunde beim Psychotherapeuten. Alle diese Menschen kennen das Problem, das ist deren täglich Brot.“
Selbstverletzendes Verhalten: Therapie
In der Therapie geht es dann darum, eine Alternative zum Ritzen zu finden: also Strategien und Werkzeuge, um mit heftigen Emotionen umzugehen, ohne sich selbst zu verletzen. „Wenn jemand unter starker Einsamkeit leidet, dann schaut man, welche alternativen Strategien es dafür gibt, Einsamkeitsgefühle funktional zu regulieren“, so Volmer. „Wenn es eine depressive Grundlage gibt, schaut man nach antidepressiven Strategien im Umgang mit dem momentanen Empfinden.“
Es geht darum, Gefühle zunächst so zu bändigen, dass ein Umgang mit ihnen überhaupt möglich wird: „Man erarbeitet gemeinsam, wie die erste Welle starken Gefühls funktional in die Bahnen gelenkt werden kann, um sie dann passend regulieren zu können. Man arbeitet an Strategien, diese erste Welle beobachtbarer und handhabbarer zu machen.“ Die Betroffenen erlernen dabei konkrete „Skills“, die ihnen den Umgang mit Emotionen erleichtern. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Achtsamkeitsstrategien, die dazu dienen, Körper und Geist zurück ins Hier und Jetzt zu bringen.
Doch es gibt auch ganz praktische Hilfsmittel, die schnell von dem aufgewühlten Innenleben ablenken können – dazu gehören etwa spezielle Ammoniak-Riechstäbchen. Der Geruch dieser Stäbchen ist so penetrant, dass er Betroffene ähnlich effektiv von der inneren Qual ablenkt wie der Schmerzreiz beim Ritzen. Dieses und viele weitere ähnliche Hilfsmittel können häufig schon beim ersten Termin in Beratungsstellen oder Praxen ausprobiert werden.
„Mein Kind ritzt sich“: Wie sollten Eltern sich verhalten?
Wenn Eltern von dem autoaggressiven Verhalten ihres Kindes erfahren, müssen sie selbst zunächst mit einer ganzen Menge Emotionen klarkommen: Angst, Sorge, Selbstvorwürfe, möglicherweise auch Unverständnis dem Nachwuchs gegenüber. Das ist normal, weiß Experte Volmer: „Eltern sind ja, wenn es gut läuft, emotional sehr involviert.“
Sein Tipp an besorgte Eltern: „Sachlich und direkt ansprechen.“ Dabei sollten sie möglichst besonnen vorgehen, um mögliche Unsicherheiten und Selbstzweifel ihrer Kinder nicht noch zu befeuern: „Wenn wir davon ausgehen, dass die Grundlage des selbstverletzenden Verhaltens emotionale Wogen sind, vielleicht auch, wie es in der Pubertät üblich ist, ein instabiler Selbstwert, dann sind stark emotional reagierende Eltern einfach kontraproduktiv.“
Konkret können Eltern ihrem Nachwuchs etwa anbieten, ihn auf der Suche nach Hilfe zu unterstützen, erläutert der Psychotherapeut: „Wir holen uns mal einen Termin in der Sprechstunde beim Psychotherapeuten, wir gehen mal zu einem kirchlichen karikativen Träger, zu einer Erziehungs- oder Familienberatung. Wir gucken uns das mal gemeinsam an oder du gehst da alleine hin. Ich mach dir einen Termin, wenn du willst.“
Selbstverletzung ernstnehmen, aber besonnen reagieren
Die Selbstverletzungen ernstnehmen, aber nicht panisch reagieren – so könnte man Volmers Rat an Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen vielleicht zusammenfassen: „Das selbstverletzende Verhalten ist nichts, was zwingend auf eine psychische Instabilität für den Rest des Lebens des Kindes hindeutet – aber es ist etwas, wo man handeln sollte.“
Markus Volmer ist psychologischer Psychotherapeut an dem medizinischen Versorgungszentrum Verhaltenstherapie Falkenried in Hamburg.
Wenn Sie sich ständig erschöpft und traurig fühlen oder unter Schlafproblemen leiden, kann dies auf eine Depression hindeuten. Spätestens nach zwei Wochen Niedergeschlagenheit ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu suchen. Auf der Website der Deutschen Depressionshilfe finden Sie verschiedene Anlaufstellen. Dort sind auch Adressen für Notfälle gelistet. Bei konkreten Suizidgedanken ist es wichtig, die nächstgelegene Klinik mit psychiatrischer Notaufnahme aufzusuchen. Bei akuten Sorgen oder Ängsten können Sie jederzeit anonym die Telefonseelsorge unter den Telefonnummern 0800/111 0 111 oder 116 123 anrufen.
Wenn Sie nicht selbst betroffen sind, aber depressive Symptome bei anderen bemerken, erhalten Sie auf der Website der Deutschen Depressionshilfe konkrete Handlungsempfehlungen. Besteht eine konkrete Suizidgefahr ist es wichtig, sofort den Rettungsdienst unter 112 oder die Polizei zu verständigen.