Retraining: Wie gut hilft die Kombi-Therapie bei Tinnitus?

Exklusiver Expertenrat: HNO-Arzt und Tinnitus-Spezialist Prof. Matthias Tisch informiert hier über Ablauf, Erfolgsaussichten und Kostenerstattung von Retraining.
Was ist Tinnitus Retraining?
Retraining ist der heutige Goldstandard der Tinnitus-Therapie. Retraining setzt darauf, den Tinnitus aus dem Bewusstsein verschwinden zu lassen – dann wird er von den Betroffenen nicht mehr wahrgenommen und auch nicht mehr als Leiden interpretiert.
Wie läuft die Retraining-Therapie ab?
Tinnitus ist sekundär zentralisiert: Er entsteht erst einmal im Gehör, wird wie eine Vokabel auswendig gelernt und dann als Phantom-Wissen im Gehirn abgelegt. So ähnlich wie Phantom-Schmerzen. Tinnitus wurde also in der Vergangenheit einmal gelernt. Beim Retraining geht es darum, diesen Lerneffekt rückgängig zu machen, ihn sich abzutrainieren, gewissermaßen wieder zu vergessen – deswegen „Re-“Training. Es ist eine Kombinationstherapie, bestehend aus sogenanntem Counseling, wo der Patient beratend aufgeklärt wird, ärztlicher Untersuchung, ob nicht etwas anderes dahinter steckt und es gehören Entspannungstherapien dazu – zum Beispiel osteopathische Verfahren, Muskelrelaxation nach Jacobsen, autogenes Training, Yoga.
Tinnitus-Retraining – wo kann ich mich hinwenden, wenn ich diese Therapie in Anspruch nehmen will?

Retraining wird in ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen angeboten, die sich auch mit der Therapie von Schwerhörigkeit beschäftigen. Jede HNO-Klinik bietet Retraining-Konzepte an oder hat Partner, die sie anbieten. In der Regel wird das Retraining von klinischen Psychologen und/oder HNO- und Nervenärzten angeboten.
Zahlt die Krankenkasse?
Grundsätzlich ist die Retraining-Therapie eine erstattungsfähige Leistung, die aber im Einzelfall beantragt und genehmigt werden muss. Eine ärztlich geführte Retraining-Therapie wird in der Regel von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen übernommen. Ich empfehle eine vorherige Kostenübernahmeerklärung, damit Sie nicht auf den Kosten sitzen bleiben.
Wie sind die Erfolgsaussichten der Retraining-Therapie?
Wir haben dazu selber eine große Metaanalyse durchgeführt, auf deren Grundlage die Behandlungsleitlinien entworfen wurden. Über alle Schweregrade hinweg war die Retraining-Therapie bei 60 Prozent der Tinnitus-Patienten erfolgreich. 60 Prozent der Patienten sagen nach der Therapie, dass sie davon sehr profitiert haben, ihr Tinnitus deutlich leiser geworden ist und sie damit wesentlich besser zurecht kommen. Alle Schweregerade bedeutet, Tinnitus-Stadium I, II, III und IV – wobei I wenig störende, gelegentlich auftretende Ohrgeräusche bezeichnet und IV mit schwerer Beeinträchtigung, stationärer Behandlung und starker Begleitdepression einhergeht. Wenn man nur die häufigsten Schweregrade – also die Tinnitus-Stadien II und III – betrachtet, liegen die Erfolgsaussichten der Retraining-Therapie bei 80 Prozent.
Wie lange dauert die Retraining-Therapie?

Das ist unterschiedlich. Es werden in der Regel Block-Therapien angeboten. Das kann zum Beispiel so aussehen: zunächst ein Therapieblock über fünf Tage am Stück, wobei eine persönliche, intensive Verbindung zwischen Patienten und Therapeuten aufgebaut wird, und dann im Vierwochenrhythmus Nachsorgetermine über ein Zeitfenster von sechs bis zwölf Monaten.
Verschwindet der Tinnitus durch Retraining ganz?
Er verschwindet, aber nur aus dem Bewusstsein. Ich erkläre das meinen Patienten gerne so: Bestimmt erinnern Sie sich an ein Lied aus Ihrer Schulzeit, das damals alle rauf und runter gehört haben, mit dem Sie ganz viel verbinden. Und wenn sie diesen Song 30 Jahre später zufällig irgendwo hören, macht es plötzlich klick und Ihre ganzen Emotionen und Erinnerungen sind so präsent, als wäre es gestern gewesen. Doch wenn Sie dann Ihrem üblichen Alltag nachgehen, ist alles wieder vergessen. Das kann man auch mit dem Tinnitus erreichen: Dass er in der üblichen Situation nicht mehr wahrgenommen und vergessen wird. Aber wenn die Auslöser-Situation wiederkommt, zum Beispiel extremer Stress oder Lärm, oder auch eine schwere Ohrentzündung, dann kann es sein, dass der Tinnitus wieder störend in den Vordergrund tritt.