Reizdarmsyndrom – neuer Ansatz gibt Hoffnung

Die Behandlung von Patienten mit Reizdarmsyndrom verlief bisher nahezu einheitlich – und das war ein Fehler, sagen führende Wissenschaftler auf dem Gebiet. Sie stellen jetzt ihre neuesten Forschungsergebnisse vor und fordern: es muss sich einiges ändern in der Reizdarm-Behandlung. Der Praxisvita-Diagnoseguide führt Sie durch die erfolgversprechendste Diagnose und Behandlung beim Reizdarmsyndrom.
„Es gibt eine starke Tendenz, die Symptome des Reizdarmsyndroms als eine einzige Störung zu behandeln“, sagt Professor Nick Talley, Direktor des Priority Research Centre for Digestive Health and Neurogastroenterology an der University of Newcastle in Australien. „Wir möchten dringend dazu anhalten, sie als mehrere Störungen zu behandeln, da es sich um ein unglaublich komplexes Leiden handelt, das sich von Fall zu Fall unterscheidet.“
Professor Talley gehört zu den führenden Forschern im Gebiet der Darmgesundheit. Mit seinem Team untersucht er die verschiedenen Ursachen, die hinter einem Reizdarmsyndrom stecken können, darunter Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Darmentzündungen, die Ansiedlung krankmachender Bakterien im Darm, psychische Störungen und eine genetische Veranlagung. Diese unterschiedlichen Ursachen erfordern ganz verschiedene Herangehensweisen bei der Behandlung, darauf wollen die australischen Forscher mit ihrem neuen Forschungsüberblick aufmerksam machen.
Wechselbeziehung zwischen Gehirn und Darm
Das australische Team beschäftigt sich außerdem mit dem Einfluss des Gehirns auf die Darmgesundheit und mit dem weit weniger erforschten Einfluss des Darms auf die Gesundheit des Gehirns. Professor Talley: „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass vom Darm ins Gehirn genauso Signale gesendet werden wie vom Gehirn zum Darm. Tatsächlich zeigen unsere Studien, dass bei einigen Reizdarm-Patienten der Darm zuerst krank zu werden schien und das zu Störungen des Gehirns führte, die sich als Angst äußerten, nicht umgekehrt.“
Die Arbeit von Professor Talley und anderen Wissenschaftlern auf der ganzen Welt zum Thema Reizdarmsyndrom ist noch nicht abgeschlossen, unzählige Fragen sind noch ungeklärt. Ziel der Mediziner ist es, so Talley, „in der Lage zu sein, das Leiden komplett zu heilen, anstatt nur die Symptome zu behandeln.“
Reizdarmsyndrom: Der PraxisVITA-Diagnoseguide
Die Symptome bei einem Reizdarmsyndrom können sehr unterschiedlich sein: Durchfall, Verstopfung, leichte bis extrem starke Bauchschmerzen, Völlegefühl. All diese Symptome können dauerhaft oder in Schüben auftreten. Als Reizdarmsyndrom wird dieses Krankheitsbild bezeichnet, wenn sich keine organischen Ursachen für die Beschwerden finden lassen – es handelt sich also um eine Ausschlussdiagnose. Die Botschaft von Professor Talley und seinem Team lautet aber: Es gibt immer eine Ursache. Wie geht man am besten vor bei der Suche nach dieser Ursache? Und wenn sich tatsächlich keine finden lässt, welche Behandlungsmethode ist am aussichtsreichsten? Da es bisher keine speziellen Reizdarmzentren gibt, an die sich Patienten wenden können, liegt das Diagnosemanagement häufig in ihren eigenen Händen. So gehen Sie bei der Detektivarbeit am besten vor:
Untersuchung beim Hausarzt
Als erstes ist der Gang zum Hausarzt sinnvoll. Wird der bei der körperlichen Untersuchung nicht fündig, empfiehlt er gegebenenfalls, erst einmal abzuwarten, ob die Beschwerden von alleine wieder verschwinden. Das kann Sinn machen, wenn die Beschwerden erst seit kurzem bestehen. Quälen sie den Patienten aber schon seit Wochen oder sind sie stark beeinträchtigend, sollte er auf weitere Diagnoseschritte bestehen.
Blutbild
Als nächstes erfolgt eine Blutprobe, in der die Entzündungswerte im Blut gemessen werden. Sind sie erhöht, kann eine Darmentzündung hinter den Beschwerden stecken. Sind sie nicht erhöht, heißt das noch nicht, dass eine Entzündung als Ursache ausgeschlossen ist – zu einem späteren Zeitpunkt kann das Ergebnis anders ausfallen. Für ein zuverlässiges Ergebnis sollte die Untersuchung darum mehrmals wiederholt werden. Am aussagekräftigsten ist das Blutbild, wenn gerade Beschwerden bestehen.
Test auf Nahrungsmittelintoleranzen und -allergien
Der erste Schritt, um einer Intoleranz oder Allergie gegen bestimmte Lebensmittel auf die Spur zu kommen, ist das Führen eines Ernährungstagebuchs. Das genaue Notieren der verzehrten Lebensmittel und der auftretenden Beschwerden gibt Hinweise darauf, in welche Richtung genauer geforscht werden sollte.
Um eine Nahrungsmittelintoleranz gegen Laktose oder Fruktose auszuschließen, führt der Arzt einen sogenannten H2-Atemtest durch. Bei diesem Test wird der Wasserstoffgehalt in der Atemluft gemessen, nachdem der Patient eine Lösung mit dem entsprechenden Zucker getrunken hat. Der Hintergrund: Kann der Körper den Zucker nicht richtig verarbeiten und gelangt er „unverarbeitet“ in den Dickdarm, produzieren die dortigen Bakterien Wasserstoff, der in die Atemluft gelangt. Ist das Ergebnis positiv, sollte es in einem Praxisversuch bestätigt werden, in dem der Patient nach einer zwei- bis vierwöchigen Abstinenz entsprechende Lebensmittel ganz gezielt zu sich nimmt und beobachtet, ob Beschwerden auftreten.
Besteht der Verdacht auf eine Nahrungsmittelallergie, beispielsweise gegen Kuhmilch, Nüsse oder Weizen, wird ein Allergietest durchgeführt. Als Standard gilt dabei der Pricktest, bei dem die Hautreaktion auf Lösungen mit dem entsprechenden Allergen getestet wird. Auch hier sollte ein positives Ergebnis immer mit einem Praxisversuch bestätigt werden.
Stuhlprobe
In einer Stuhlprobe lassen sich Keime und Parasiten nachweisen, die zu Beschwerden wie Bauchschmerzen und Durchfall führen können.
Bildgebende Verfahren
Bei einer Ultraschalluntersuchung können gegebenenfalls krankhafte Veränderungen des Darms festgestellt werden. Eine Darmspiegelung liefert ein noch genaueres Bild des Darms und zeigt Ausstülpungen und Durchblutungsstörungen der Darmwand, chronische Entzündungen und sogenannte Polypen, die Vorstufen von Darmkrebs sein können.
Psychotherapie hilft den meisten Patienten
Und wenn der ganze Untersuchungsmarathon zu keinem Ergebnis geführt hat? Dann spricht vieles dafür, dass tatsächlich das Gehirn bzw. die Psyche bei den Beschwerden eine Rolle spielt. Der nächste Schritt sollte darum eine Psychotherapie sein. Die ist als Behandlungsmethode sehr erfolgsversprechend, wie eine 2016 durchgeführte Studie zeigte. US-Wissenschaftler werteten 41 Studien mit insgesamt 2.200 Probanden aus, um die Wirksamkeit einer Psychotherapie beim Reizdarmsyndrom zu untersuchen. Sie betrachteten dabei verschiedene Arten der Psychotherapie, darunter kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen und Hypnose. Alle Therapien zeigten Wirkung: Die Beschwerden der Patienten ließen stärker nach als bei 75 Prozent der Patienten in den Kontrollgruppen.