Nach einem Autounfall an Aphasie erkrankt

Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 80 000 Menschen an Aphasie. Auch Sandra K. (34). Sie musste ganz von vorn anfangen und Sprechen, Lesen und Schreiben neu lernen.
Sicher haben Sie das schon einmal erlebt: Sie wissen genau, was Sie sagen wollen – und finden das passende Wort einfach nicht. Ein kurzer Moment, dann ist dieser kleine „Aussetzer" schon wieder vorbei. Aber nicht für Sandra K. ... Der Pfingstsonntag vor fünf Jahren. „Ich fuhr in meinem Golf die Landstraße bei Papenburg entlang, wollte zum Schwimmen ins Freibad", erinnert sie sich. „Mir kam ein Laster entgegen. Plötzlich zog er auf meine Fahrspur." Die Wagen prallen frontal zusammen. Sandra K. kracht mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, verliert das Bewusstsein.
Die damals 29-Jährige kommt ins Krankenhaus, liegt 22 Tage im Koma. „Als ich wieder aufwachte, hatte ich keine Ahnung, was passiert ist. Kurz darauf kam eine Schwester ins Zimmer. Ich wollte sie fragen, wo ich bin. Aber ich konnte nicht", erzählt Sandra K. und stockt. „Ich hatte eine Stimme, fand aber keine Wörter. Ich verzog den Mund. Ich hustete. Ich schnalzte. Das klappte! Nur sprechen konnte ich nichts. Aus meinem Mund kamen Brabbel-Laute – wie bei einem Baby. Grauenhaft. Ich fühlte mich so hilflos."
Ein Arzt erklärt ihr, dass sie an Aphasie leidet. „Ich kannte dieses komplizierte Wort als Begriff von der Uni und aus Lehrbüchern, weil ich Logopädin, also Sprachtherapeutin, bin." Deshalb wusste sie, was die Diagnose bedeutet: „Durch den Aufprall wurde für Sekunden die Blutzufuhr zum Sprachzentrum im Gehirn unterbrochen. Die Folge: Wie in einer Kartei, in der man Karten löscht, wurden die Wörter in meinem Kopf zerstört."
Ein Leben ohne Sprache – für Sandra eine Qual. „Ich hatte einen Zeichenblock, damit ich mich überhaupt verständigen konnte. Wenn ich Durst hatte, malte ich einen Becher." Denn auch schreiben konnte sie nicht. „Ich wusste nicht mehr, wie Buchstaben aussehen ..."
Nach 2 Tagen schaffte sie es zum ersten Mal, wieder ein Wort zu sprechen. „Ich konnte nur , entweder' und , oder' sagen – immer abwechselnd. Niemand verstand, was ich meinte. Ich verstand es selbst nicht! Aber ich war froh, dass ich überhaupt wieder zwei ganze Wörter zustande brachte!"
Nach dem Krankenhaus kam Sandra in eine Reha-Klinik. „Es war schrecklich. Ich konnte ja mit niemandem über meine Gefühle sprechen. Ich weinte viel. Wenn mein Freund mich besuchte, umarmte er mich. Er flüsterte mir ins Ohr, dass er mich liebe. Und ich konnte nur unverständliches Zeug zurückgrunzen. Ich schämte mich. Es dauerte Wochen, bis ich endlich das Wort Liebe herausbrachte. Da war klar für mich, jetzt lerne ich auch wieder alles andere."
Sechs Monate blieb sie in der Neuro-Klinik Friedehorst bei Bremen. „Dort lernte ich das Sprechen neu. So, wie man eine Fremdsprache in der Schule lernt. Mit dem Abc fängt das an." Kaum konnte sie die ersten Wörter lesen, schnappte Sandara sich ein Buch. „Es war der Kinderroman , Urmel aus dem Eis'. Zum ersten Mal hatte ich wieder Spaß am Lesen. Und außerdem geht es in dem Buch darum, den Tieren, also Anfängern, das Sprechen beizubringen. Das war ich ja auch irgendwie", sagt sie heute fröhlich.
Sandra lernte in der Therapie, ihr Gehirn zu trainieren. Welches Ding passt zu welchem Wort? „Damit habe ich sogar heute manchmal Probleme. Es passiert immer noch, dass ich zum Beispiel Schere meine, aber Briefmarke sage." Trotzdem wollte sie nie aufgeben. „Ich wusste, dass ich stark sein muss. Auch wenn ich manchmal am Ende meiner Geduld war."
Zum Beispiel, wenn sie mit ihrer Schwester übte. „Manchmal brauchte ich Minuten, um einen einzigen Satz zu schreiben. Meine Schwester blieb ganz ruhig, fasste mich an der Hand und ermutigte mich: , Du schaffst das!' Das gab mir Kraft weiterzumachen."
Heute kann sie ganz offen über ihre Krankheit reden. „Ich hatte auch Glück. Meine Familie und meine Freunde waren immer für mich da. Viele Aphasiker verlieren Freunde, weil den Leuten das Zuhören zu umständlich ist oder sie sich nicht auf die Fehler einstellen können. Dabei ist es nur eine Behinderung auf Zeit und hat nichts mit Intelligenz zu tun!"
Doch auch Sandra hatte Schwierigkeiten. „Eine Frau fragte mich auf der Straße mal nach dem Weg. Ich brachte kein Wort heraus. Die Frau wandte sich kopfschüttelnd ab. Mir tat dies so Leid, ich lief rot an. Sie muss gedacht haben, ich wolle ihr nicht antworten." Seitdem hat sie immer einen Ausweis bei sich. „Falls mir mal was passiert. Da steht drauf, wie ich heiße und wo ich wohne. Und dass ich Aphasikerin bin ..."
Heute blickt Sandra nach vorn. „Wenn ich ganz gesund bin, will ich wieder in meinem alten Beruf arbeiten. Und natürlich warte ich auf den Tag, an dem ich wieder perfekt sprechen kann. Und der ist schon ganz nahe!"
„Es ist nur eine Behinderung auf Zeit", erklärt Sandra
Aphasie – was ist das genau?
Wodurch wird Aphasie ausgelöst?
Zum Beispiel durch eine Durchblutungsstörung, wie bei einem Schlaganfall. Oder bei einem Aufprall des Kopfes, etwa bei einem Verkehrsunfall, beim Sturz von Fahrrad oder Pferd. Also dann, wenn die Blutzufuhr zum Sprachzentrum im Gehirn plötzlich unterbrochen wird. Ohne Blut vertrocknet das Zellgewebe dort quasi in Sekundenschnelle. Vorhandene Daten, also erlernte Wörter, Begriffe oder Redewendungen, aber auch die Werkzeuge dazu, zum Sätze bilden etwa, werden gelöscht. Das ist unwiederbringlich, das Verlorene muss neu gelernt werden.
Welche Arten der Aphasie gibt es?
Es gibt fünf Aphasie-Formen, die sich in ihrer Schwere steigern: Wortfindungsstörungen, dann die Wortverwechslung, das Sprechen im Telegrammstil, die Sprechenthemmung (unkontrolliertes, unzusammenhängendes Sprechen) und schließlich der Mutismus – der totale Sprachausfall, also Schweigen.
Ist Aphasie wieder ganz heilbar?
Die Krankheit tritt in der Hälfte aller Fälle vorübergehend auf. Bei den anderen bleibt sie für immer. Viele Patienten sind innerhalb eines Jahres mit intensivem Training wieder fit. Andere brauchen Jahre, regenerieren sich in kleinen Schritten. Die Hoffnung, dass Aphasie komplett heilt, besteht aber immer.