Der Feind im eigenen Körper

Allergien, Multiple Sklerose, Rheuma: Wenn plötzlich das Immunsystem verrückt spielt, kann das ernste Auswirkungen haben.

Das Immunsystem ist in der Lage, krank machende Keime anzugreifen – eigenes Gewebe aber zu verschonen. Ein hochkomplexes System, das bei Menschen, die an Autoimmunkrankheiten leiden, außer Kontrolle gerät
Das Immunsystem ist in der Lage, krank machende Keime anzugreifen – eigenes Gewebe aber zu verschonen. Ein hochkomplexes System, das bei Menschen, die an Autoimmunkrankheiten leiden, außer Kontrolle gerät

Es kann ganz plötzlich passieren – so wie bei Popstar Lady Gaga: Als sie auf der Bühne zusammenbrach, vermutete man erst eine Erschöpfung. Doch die Diagnose ergab: Lupus Erythematodes – ein entzündliches Bindegewebsleiden. Über Nacht hatte sich ihr Immunsystem gegen die Sängerin verschworen. Autoimmunkrankheiten wie diese stellen Forscher vor große Herausforderungen. Denn bis heute gibt es zahlreiche offene Fragen.

Wie kommt es zu dem Irrlauf im Körper?

Als "Gesundheitspolizei" des Körpers ist das Immunsystem in der Lage, krank machende Keime anzugreifen – eigenes Gewebe aber zu verschonen. Ein hochkomplexes System, das bei Menschen, die an Autoimmunkrankheiten leiden, außer Kontrolle gerät. Plötzlich richten sich die Immunzellen gegen den eigenen Körper. Egal, ob Haare, Haut, Nerven, Nieren oder Schilddrüse – scheinbar willkürlich attackieren die sonst so hilfreichen Beschützer jede Art von Körperzellen. Über vier Millionen Menschen allein in Deutschland leiden an einer der über 80 bekannten Autoimmunerkrankungen. Frauen öfter als Männer – vermutlich weil weibliche Geschlechtshormone dabei eine Rolle spielen.

Was haben die Krankheiten gemeinsam?

Ihre zerstörerische Kraft: So werden beim Typ-I-Diabetes die Insulin-produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse angegriffen, bei Multipler Sklerose die Umhüllung der Nerven. Bei der rheumatoiden Arthritis sind die Gelenke Ziel der Attacke. In anderen Fällen schuppt sich die Haut (Psoriasis), zeigt schmetterlingsförmige Rötungen (Lupus Erythematodes) oder verändert sich durch weiße Flecken (Vitiligo). Bei der EGPA (Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis) entzünden sich durch eine Funktionsstörung des Immunsystems kleine und mittelgroße Blutgefäße. Das kann Schädigungen von Organen nach sich ziehen.

Kennt man die Auslöser?

Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine abschließenden Aussagen: Zum einen sind Gene und Umweltgifte im Gespräch. Ebenso auch Bakterien wie Streptokokken oder Borrelien, die von Zecken übertragen werden. Auch Herpes-Viren oder der Magenkeim Helicobacter pylori stehen im Verdacht, multiple Sklerose oder Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) auslösen zu können.

Verzeichnen Experten einen Anstieg der Fälle?

Eine Zunahme von Autoimmunerkrankungen ist schwer nachweisbar. Dass aber deutlich mehr Menschen als früher betroffen scheinen, lässt sich auch mit verbesserter Diagnostik und größerem Verständnis über die Arbeit des Immunsystems erklären.

Wird die Anlage dafür vererbt?

Die Anlage wird zwar vererbt, das heißt aber nicht, dass eine Autoimmunkrankheit immer zum Ausbruch kommt. Treffen aber bestimmte Auslöser/Risikofaktoren aufeinander, kann es zu einem mehr oder weniger schwerwiegenden Verlauf kommen.

Kann man vorbeugen?

Leider nur begrenzt. Grundsätzlich gilt, mögliche Risikofaktoren auszuschalten: also nicht zu rauchen, den Alkoholkonsum zu reduzieren und Übergewicht zu vermeiden. Wichtig ist auch der Abbau von zu viel Stress – durch effektive Entspannungstechniken (Meditation, Yoga, Autogenes Training).

Welche Rolle spielt die Ernährung?

Wer gewissen Ernährungsregeln folgt, kann Schmerzen und übereifrige Immunreaktionen abmildern. So sollte eine "Autoimmun-Diät" einen hohen Anteil an Omega-3-Fettsäuren enthalten, zum Beispiel aus fettem Seefisch (Hering). Zudem hemmt Lein-, Schwarzkümmel- und Fischöl eine überschießende Abwehr. Wichtig auch, entzündungsfördernde Arachidonsäure aus tierischen Fetten (zum Beispiel in Milch, Wurst, Fleisch) zu meiden. Und weniger Kohlenhydrate (Zucker, Getreide) zu essen. Ein Zuviel übersäuert den Körper.

Schützt Stillen?

Bei Autoimmunkrankheiten wie zum Beispiel Morbus Crohn, Allergien, Asthma und Zöliakie (Autoimmunerkrankung im Kindesalter, die mit einer Glutenunverträglichkeit einhergeht) kann Stillen das Kind möglicherweise schützen.

Welche Behandlungen stehen zur Verfügung?

Bis heute existiert keine Therapie, die ein fehlgeleitetes Abwehrsystem wieder auf die richtige Bahn bringt. Die stärkste Waffe im Krankheitsschub ist weiterhin Kortison, weil es das Immunsystem lähmt. Noch gezielter als Kortison greifen künstliche Antikörper (Biologika) in das Abwehrgeschehen ein, indem sie die speziellen Entzündungsstoffe blockieren. Mit guten Erfolgen – aber auch Risiken: Sie können die Gefahr für Infektionen oder evtuell sogar für Krebs erhöhen.

Gibt es Hilfen aus der Alternativ-Medizin?

Einen positiven Einfluss auf das Immunsystem hat zum Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin: Akupunktur, individuell für den Patienten zusammengestellte Kräutermixturen und Bewegungstherapien (zum Beispiel Qigong). Auch die Eigenblut- beziehungsweise die Craniosacrale-Therapie soll beruhigend auf die überschießende Abwehr einwirken.

Hashimoto Thyreoiditis

Immunzellen lösen eine chronische Entzündung der Schilddrüse (Hashimoto-Thyreoiditis) aus. Erste Hinweise ergeben sich aus der Blutuntersuchung, therapiert wird die Autoimmunkrankheit durch den Ersatz der fehlenden Schilddrüsenhormone.

Schuppenflechte

Immunzellen greifen Hautzellen an, verursachen eine Entzündung und lösen ein beschleunigtes Wachstum neuer Hautzellen aus. Folge: Die Haut schuppt sich, wirkt wie ein Panzer. Linderung bringen unter anderem Sole-Bäder und sanfte Bestrahlungs-Therapien mit UV-A1-Kaltlicht.

Rheumatoide Arthritis

Hier löst die fehlgeleitete Abwehr eine Entzündung der Gelenkinnenhaut aus. Folge: Starke Schmerzen, die Gelenke versteifen, werden deformiert (Rheumaknoten). Wichtig: Die frühe Diagnostik beim Rheumatologen, um ein Fortschreiten der Gelenkzerstörung zu vermeiden. Hilfe bringen unter anderem neue hochwirksame Rheumamedikamente.

Morbus Crohn

Die chronische Entzündung der Darmschleimhaut löst schwerste Durchfälle, verbunden mit Gewichtsverlust und Nährstoff-/Eisenmangel aus. Hochwirksame Antikörper-Therapien, als Infusion verabreicht, können die quälenden Entzündungsreaktionen im Körper lindern und ein Fortschreiten der Erkrankung verhindern.

Allergien

Bei Allergikern reagiert das Immunsystem übermäßig auf völlig harmlose Stoffe aus der Umwelt. Hilfe bringt in vielen Fällen die Hyposensibilisierung.

Vitiligo

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die sogenannte Weißfleckenkrankheit ("Scheckhaut") zu behandeln. Neben einer medizinischen Camouflage (Abdeckung) helfen auch neuartige Cremes, die die Pigmentstörung in Kombination mit UV-Bestrahlung wieder ins Lot bringen sollen.

Typ-1-Diabetes

Obwohl es derzeit für die angeborene Autoimmunerkrankung noch keine Behandlung gibt, die zu einer Heilung führt, können Betroffene dank der modernen Insulin-Therapie, und insbesondere der Insulinpumpentherapie, ein fast normales Leben führen.

Multiple Sklerose

Die chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems kann durch neue Therapien günstig beeinflusst werden: So steht mit dem Wirkstoff Natalizumab ein Antikörper zur Verfügung, der die Zahl der Krankheitsschübe verringern und das Fortschreiten aufhalten kann.

EGPA

Bei der EGPA (Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis) entzünden sich durch eine Funktionsstörung des Immunsystems kleine und mittelgroße Blutgefäße. Das kann Schädigungen von Organen nach sich ziehen. Oft ist die Lunge, das Herz, der Verdauungstrakt oder die Nase betroffen. Zu Beginn leiden viele Patient:innen unter Asthma und einer Entzündung der Nasenschleimhaut oder Nasennebenhöhlen.

Zöliakie

Das Eiweiß Gluten, das in Getreidesorten wie Weizen, Dinkel, Roggen und Gerste vorkommt, löst im Körper der Betroffenen eine chronische Entzündung der Dünndarmschleimhaut aus. Hilfe bringt nur eine strikte glutenfreie Auslass-Diät.

Digitale Hilfe für Betroffene von Lupus und EGPA

Viele der Betroffenen von Autoimmunkrankheiten wie Lupus erythematodes oder der Eosinophilen Granulomatose mit Polyangiitis haben meist lange Leidenswege hinter sich, bevor die Krankheit diagnostiziert wird und klar wird, was mit dem eigenen Körper los ist. Digitale Angebote können helfen, die Krankheit genauer zu verstehen und dabei helfen, sich auf den nächsten Behandlungsschritt besser vorzubereiten. Auch Aktionstage wie der jährliche "Rare Disease Day", der jeweils am 28. Februar (in Schaltjahren am 29. Februar) stattfindet, machen auf seltene Krankheiten aufmerksam und helfen, das Bewusstsein dafür zu stärken.

So richtet sich die Website Lupuscheck.de mit einem umfassenden Informations- und Serviceangebot an alle Interessierten, Betroffene oder Angehörige. Expert:innen teilen dort ihr Wissen, Patient:innen berichten von ihren Erfahrungen z.B. in Form von Mutmachgeschichten. Am 6. Mai 2023 wird der jährliche digitale Lupustag für Patient:innen abgehalten, eine offene, kostenfreie Veranstaltung, der bei der Anmeldung eine anonyme Teilnahme ermöglicht.

Das Portal „Leben mit EGPA“ (Lebenmitegpa.de), das seit Mitte Februar 2023 live ist, will Betroffene, ihre Familien und die Menschen um sie herum aufklären, begleiten und unterstützen. Die Website bietet Informationen zu Erkrankung und Therapie wie auch Hilfestellungen für den Alltag, um aktiv und gut unterstützt mit EGPA leben zu können.

Solche Angebote können helfen, dass der Feind im eigenen Körper besser einschätzbar wird und Autoimmunerkrankungen ihren Schrecken verlieren.